Manchmal beginnt Heilung dort, wo wir aufhören zu denken.
Eine fast hörbare Stille, ein Atemzug, der Raum schafft – ein Bewegungsimpuls, die aus der Tiefe kommt.
In der Körperarbeit nennen wir diesen Prozess Unwinding: ein Loslassen, das den Körper zurück in sein natürliches Gleichgewicht führt.
Claudia und die unerwartete Bewegung
Claudia kam zu mir in die Massage, noch ein wenig unsicher auf den Beinen. Vor zwei Monaten war sie gestürzt und hatte sich am rechten Fuß einen Bruch zugezogen. Als sie fiel, griff sie mit beiden Armen nach Halt – ein Reflex, den wir alle kennen. Das Bein war inzwischen wieder stabil, doch die linke Schulter bereitete ihr seitdem immer wieder Beschwerden.
Als ich ihren Arm sanft anhob, geschah etwas Unerwartetes: Der Körper begann von selbst zu antworten. Erst ein leises Zittern, dann eine fliessende, kreisende Bewegung, als würde sich etwas im Inneren neu ordnen. Der Arm folgte einem eigenen Rhythmus – einer Spur, die nicht von mir kam, sondern aus Claudias Körper selbst entstand.
Manchmal zeigt sich Unwinding so: ausgelöst durch einen Unfall, einen Schock, eine gespeicherte Erinnerung im Gewebe. Und manchmal entsteht es ohne erkennbare Ursache – als Ausdruck der inneren Intelligenz des Körpers, der immer wieder den Weg zurück zu Balance, Leichtigkeit und Gesundheit sucht.
Was bedeutet Unwinding?
„Unwinding“ heißt wörtlich übersetzt so viel wie „entwirren“ oder „loslassen“. In der Körpertherapie beschreibt der Begriff die spontane Entfaltung von Bewegungen, die aus dem Inneren eines Menschen hervorgehen – nicht bewusst gesteuert, sondern vom Körper selbst initiiert.
Ursprünglich wurde Unwinding in der Osteopathie beschrieben und fand später Eingang in craniosacrale Arbeit und myofasziale Methoden. In der Esalen Massage bekommt dieser Prozess jedoch eine eigene Färbung: Hier geht es nicht um eine Technik, die man anwendet, sondern um einen Raum, den man öffnet. Unwinding ist kein „Tun“, sondern ein „Geschehenlassen“.
Für Klient:innen kann es sich anfühlen, als ob der Körper aufatmet. Bewegungen entstehen von allein: sanfte Rotationen, ein Gleiten, vielleicht ein rhythmisches Schwingen. Manchmal bleibt es bei feinen Mikrobewegungen, manchmal entfaltet sich eine ganze Sequenz wie ein Tanz.
Sicherheit als Grundlage – das Nervensystem verstehen
Damit Unwinding geschehen kann, braucht es mehr als Technik. Es braucht Sicherheit. Das Nervensystem ist der unsichtbare Wächter, der ständig unsere Umgebung überprüft: Bin ich hier sicher? Kann ich loslassen? Oder muss ich wachsam bleiben?
Der Neurowissenschaftler Stephen Porges hat dafür den Begriff Neurozeption geprägt. Er beschreibt damit, wie unser Nervensystem fortwährend – und unbewusst – einschätzt, ob wir uns in Gefahr befinden oder geschützt sind. Erst wenn diese innere Ampel auf „grün“ steht, kann der Körper entspannen und sich vertrauensvoll hingeben.
„Neurozeption ist kein kognitiver Prozess; es ist ein neuronaler Prozess, der ohne Bewusstsein abläuft.“
– Stephen Porges
Vielleicht kennst du das selbst aus einer Massage: Wenn sich etwas nicht sicher anfühlt, möchtest du am liebsten aufstehen oder bist innerlich wie eingefroren. Dein Körper geht in einen Schutzmodus. Doch wenn du dich geborgen fühlst, öffnet sich ein anderes Tor: Dein Atem wird ruhiger, deine Muskeln geben nach, und Bewegungen können von innen entstehen.
Genau hier hat Unwinding seinen Ursprung: in dem sicheren Raum, den Therapeutin und Klientin gemeinsam schaffen.
Wie Unwinding in der Massagepraxis sichtbar wird
Unwinding hat viele Gesichter. Manchmal sind es kaum wahrnehmbare Mikrobewegungen, die sich wie ein inneres Zittern oder ein feines Fliessen zeigen. Ein anderes Mal können es grosse, weite Bewegungen sein, die den ganzen Arm, die Wirbelsäule oder sogar den ganzen Körper mit einbeziehen.
Diese Bewegungen folgen keinem vorgegebenen Muster. Sie sind weder mechanisch noch planbar, sondern entstehen spontan – wie ein Tanz, der im Moment geboren wird. Dabei führt der Körper der Klientin, und wir als Behandelnde folgen.
Die Technik allein erzeugt kein Unwinding – und doch ist sie wichtig. Wir brauchen sichere Hände, eine klare und verlässliche Führung, damit sich der Körper gehalten fühlt. Welche Art von Technik wir einsetzen, spielt eine geringere Rolle. Wichtiger ist, wie wir sie anwenden: langsam genug, achtsam genug, damit sich zeigen kann, was aus dem Inneren hervortreten will.
Die Haltung der Praktizierenden
Für uns als Praktizierende bedeutet das: nicht steuern, sondern begleiten. Unsere Aufgabe ist es, Sicherheit und Raum zu schaffen, in dem der Körper loslassen darf.
Das erfordert eine besondere Qualität von Zuhören – nicht nur mit den Händen, sondern mit dem ganzen Körper. Wir treten in eine Art nonverbale Kommunikation ein, in der wir genauso aufmerksam sind auf das, was nicht geschieht, wie auf das, was sich bewegt.
Unwinding erinnert uns daran, dass Heilung kein „Machen“ ist. Sie geschieht, wenn wir lernen, mit Neugier zu folgen und uns von der Intelligenz des Körpers leiten zu lassen.
Kleine Übung für deine Praxis
Probiere es selbst aus:
Wenn du das nächste Mal den Arm einer Klientin in den Condor führst – eine der Grundtechniken der Esalen Massage zur Mobilisierung der Schulter und zum Strecken der Körperseite:
Erlaube dir, zu Beginn der Armführung an jenem Punkt innezuhalten, wo der Arm am leichtesten wirkt. Stütze den Arm, hebe ihn ganz fein aus dem Schultergelenk heraus. Mach eine Pause. Lausche.
Vielleicht entsteht aus dieser Pause eine feine Bewegung, der du folgen kannst. Vielleicht bleibt es still – auch das ist vollkommen in Ordnung. Betrachte alles als eine Einladung zum Erkunden.
Diese Haltung, nichts erzwingen zu wollen, sondern das, was auftaucht, zu begleiten, ist das Herz von Unwinding.
„Eines der größten Geschenke, die du einem Klienten machen kannst, ist deine Bereitschaft, mitfühlend, nicht-handelnd zu warten.“
– Hugh Milne
07.09.2025/Lili Imboden