Präsenz in der Körper- und Psychotherapie ist die Grundlage jeder heilsamen Interaktion – der fruchtbare Boden, auf dem echte Heilung geschehen kann. Wenn wir präsent sind, da im Hier und Jetzt, fühlen wir uns lebendig, empfänglich für Berührung und offen für jede Form von zwischenmenschlichem Kontakt.
There is nothing better that you can give to a person than to be present with them.
Ich hatte die grosse Freude, Leandra Aufdereggen vom IBP Institut in Winterthur zu treffen, um über die zentrale Bedeutung von Präsenz in unserer therapeutischen Arbeit zu sprechen – insbesondere über die verschiedenen Ebenen von Präsenz, wie sie im KEK-Modell des IBP erklärt werden.
Das vollständige Audio-Interview:
Leandra, magst du uns kurz etwas über das IBP und dich selbst erzählen?
Sehr gerne. Das IBP-Institut wurde parallel zur Arbeit von Jack Rosenberg in den USA gegründet. Rosenberg war der Begründer der Integrativen Körperpsychotherapie (IBP) und verbrachte viel Zeit am Esalen Institut – einem der Ursprungsorte des Human Potential Movements. Dort lernte er von einigen der prägendsten Persönlichkeiten dieser Bewegung. Unser Institut befindet sich heute in Winterthur, Schweiz, und ich bin dort als Ausbildnerin tätig. Ich leite unter anderem den Weiterbildungslehrgang „Prozessbegleitung“, der speziell für Körpertherapeut:innen konzipiert wurde
Das KEK-Modell: Drei Ebenen für ganzheitliche Präsenz
In einem Weiterbildungswochenende hast du uns das KEK-Modell vorgestellt:
Das KEK-Modell beschreibt drei wesentliche Ebenen des Erlebens: die kognitive, die emotionale und die körperliche Ebene. Im IBP gehen wir davon aus, dass alle Erfahrungen auf diesen drei Ebenen stattfinden – und dass sie miteinander vernetzt sein sollten. Genau darin unterscheidet sich unser Ansatz von rein kognitiven oder rein körperorientierten Methoden. Ziel ist eine ganzheitliche Präsenz, bei der Denken, Fühlen und Spüren in Einklang kommen.
„Heilung passiert nur in Präsenz“ – was bedeutet das konkret?
Ein Satz aus der Weiterbildung ist mir besonders in Erinnerung geblieben: „Heilung passiert nur in Präsenz.“ Was bedeutet das konkret im therapeutischen Kontext?
In der Körpertherapie erleben wir oft, dass Menschen vor allem im Kopf präsent sind – viel reden, analysieren, aber wenig im Körper spüren. In solchen Momenten findet keine echte Integration statt. Um alte Verletzungen zu heilen, müssen wir diese auf allen drei Ebenen gleichzeitig erleben: körperlich, emotional und kognitiv. Erst dann kann eine Vervollständigung geschehen.
Wenn wir in früheren, überfordernden Situationen gelernt haben, uns nur über den Kopf zu orientieren, verlieren wir diese innere Vernetzung. Heilung bedeutet, diese Verbindung wiederherzustellen – und das geschieht nur in echter Präsenz.
Präsenz in der Massage: Vom Tun ins Spüren kommen
Wie können Massagetherapeut:innen ihre Präsenz während einer Sitzung stärken?
Am besten über die sensorische Wahrnehmung. Fokussiere dich bewusst auf deine Hände: Wie fühlt sich der Körper unter deinen Händen an? Diese Achtsamkeit bringt dich zurück in den Moment. Eine präsente Berührung ist spürbar anders – sie signalisiert der Klient:in, dass sie als Mensch wahrgenommen wird, nicht als Objekt. Allein das kann tief heilsam sein.
Auch für uns selbst ist es essenziell, immer wieder in unserem Körper präsent zu sein. Spür hinein: Wie geht es mir gerade? Wie fühlt sich mein Körper an? Wie ist die Qualität meiner Berührung?
Die 80/20-Regel: Bei dir bleiben, während du berührst
Ich fand die 80/20-Regel spannend: 80% bei mir, 20% beim Gegenüber. Das hat meine Präsenz stark verändert.
Es geht weniger ums Tun, sondern mehr ums Spüren. Wenn wir selbst zentriert und präsent sind, wird unsere Berührung automatisch achtsamer. Wir treten in einen Raum des Seins – nicht nur der Technik.
Redende Klient:innen? Präsenz durch kleine Experimente fördern
Wie können wir Klient:innen unterstützen, selbst präsenter zu werden – zum Beispiel, wenn sie viel reden oder schwer abschalten können?
Das ist ein häufiges Thema. Wenn ein:e Klient:in viel redet und wir uns danach ausgelaugt fühlen, ist das oft ein Zeichen, dass wenig Körperpräsenz vorhanden ist. Hier helfen Einladungen zu kleinen Experimenten:
Zum Beispiel: „Wie wäre es, wenn wir ein Experiment machen: Spür ganz bewusst in deinen Körper, während ich dich berühre – was kannst du wahrnehmen?“
Selbstwahrnehmung stärken, Selbstwirksamkeit ermöglichen
Oft kommt dann schnell eine Rückmeldung wie: „Dort ist es verhärtet“ oder „Das fühlt sich weich an“. Danach frage ich: „Wie war dein Erleben mit dieser Art der Behandlung?“ So fördern wir Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit – zentrale Elemente jeder heilsamen Erfahrung.
Der Lehrgang „Prozessbegleitung“ am IBP Institut
Magst du noch etwas über euren Weiterbildungslehrgang erzählen?
Gerne. Das IBP Institut bietet mehrere Ausbildungen an – unter anderem einen körperpsychotherapeutischen und einen Coaching-Lehrgang für Menschen aus beratenden oder körpertherapeutischen Berufen.
Besonders hervorheben möchte ich den eineinhalbjährigen Lehrgang „Prozessbegleitung“, der speziell für Körpertherapeut:innen konzipiert wurde. Wer danach weitermachen möchte, kann nahtlos in die Coaching-Ausbildung einsteigen, denn das psychologische Fundament ist identisch mit dem ersten Ausbildungsjahr.
Vielen Dank, Leandra, für dieses inspirierende Gespräch! Ich freue mich schon auf unser nächstes Treffen im IBP.
Ich danke dir ebenfalls. Es war mir eine Freude!
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